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Viel Verkehr im Stromnetz

Bis vor wenigen Jahren wurde Strom vor allem in den grossen Kraftwerken produziert: Kern- und Wasserkraftwerke lieferten die Energie zuverlässig und planbar. Mit der Energiestrategie 2050 ändert sich das grundlegend: Die dezentrale Stromproduktion stellt ganz neue Anforderungen an das Stromnetz – und damit an die Netzbetreiber.

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Wer von Bremgarten kommend durch das Reusstal fährt, passiert kurz vor Tägerig den Weidhof. Entlang der Kantonsstrasse grasen Pferde auf einer Weide, dahinter liegen der Springplatz sowie die Stallungen und die Reithalle des beliebten Pferdehofs. Auf den grossflächigen Dächern sind Solarpanels zu erkennen. Sie bedecken eine Fläche von rund 2 700 Quadratmetern und werden über die kommenden 30 Jahre eine durchschnittliche Jahresproduktion von 500 Megawattstunden (MWh) erbringen. Das entspricht dem jährlichen Verbrauch von über einhundert Haushalten.

Notwendige Modernisierung

Bevor eine Anlage dieser Grössenordnung ans Netz gehen kann, muss häufig die vorhandene Netzinfrastruktur angepasst werden. Da der Weidhof nur einen Bruchteil selbst verbraucht, fliesst der Grossteil des produzierten Solarstroms ins Netz. «Um diese Strommengen abzutransportieren, reicht es meist nicht, ein paar neue Kabel zu verlegen», erklärt der Leiter des Regional- Centers Bremgarten Reto Lanz. Auf öffentlichem Grund und dem Gelände des Reithofs verlegte das Team aus Bremgarten etwa 500 Meter Mittelspannungskabel und rund 500 Meter Niederspannungskabel. Um die Photovoltaikanlage in Betrieb nehmen zu können, war auch der Bau einer neuen Transformatorenstation notwendig.

Arbeiten an der Netzinfrastruktur sind oft mit spürbaren Auswirkungen für die Bevölkerung verbunden: Weil die Leitungen meist unterirdisch verlaufen, müssen beispielsweise Strassen gesperrt werden, um den Fahrbahnbelag zu öffnen. Im Bemühen, solche Beeinträchtigungen auf ein Minimum zu reduzieren, schafft die AEW bei Erdarbeiten jeweils auch gleich Platz für künftige Ausbauschritte. Zusammen mit den neuen Stromleitungen werden auch Reserverohre verlegt, etwa für die Wasserversorgung oder für Glasfaserleitungen. Die Arbeiten werden mit der Standortgemeinde, den Telekommunikationsunternehmen und internen Leistungserbringern (Wärme, Telco) abgestimmt und wenn möglich gebündelt ausgeführt.

«Momentan profitieren wir davon, dass wir bereits in der Vergangenheit leistungsfähige Netze gebaut haben », meint Reto Lanz. Dennoch kommen die Netze immer öfter an ihre Grenzen und müssen verstärkt werden. Mit der Zunahme dezentraler Energieerzeuger ist ein modernes Netz erforderlich, um diese kleineren Produktionseinheiten ins Gesamtsystem zu integrieren. Die unregelmässige Einspeisung aus erneuerbaren Energiequellen führt zu Schwankungen im Stromnetz, welches stets eine Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch aufrechterhalten muss, um eine stabile Stromversorgung zu gewährleisten.

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Der Pferdehof Weidhof in Tägerig produziert viel Solarstrom.

Der Ausbau der Netzinfrastruktur ist komplex.

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Aufwand und Ertrag

Es sind leistungsstarke Anlagen wie auf dem Weidhof, welche dazu beitragen sollen, bis 2050 vierzig Prozent des jährlichen Strombedarfs durch Photovoltaik zu decken. Der «Solarexpress» nahm vergangenes Jahr Tempo auf: Die Schweiz hat 2023 Photovoltaik mit der vierfachen Leistung des stillgelegten Kernkraftwerk Mühleberg zugebaut. Bereits im laufenden Jahr könnte ihr Anteil zehn Prozent der Schweizer Stromproduktion ausmachen. Die AEW setzt zur Erreichung dieser Ziele auch auf ein Contracting- Modell: Sie trägt sämtliche Investitionskosten für Montage und Betrieb, der Contracting-Partner stellt Dach oder Fassade für die PV-Anlage zur Verfügung. Im Gegenzug erhält er entweder lokal produzierten Strom zu günstigen Konditionen oder eine Dachmiete, während die AEW ihre Eigenproduktion ausbauen kann – eine Winwin- Situation. Sofern die technischen Rahmenbedingungen stimmen: «Um die Contracting-Anlagen wirtschaftlich zu betreiben und die gesamte produzierte Energie ins Netz speisen zu können, muss natürlich auch eine entsprechende Netzinfrastruktur bereitgestellt werden», sagt Robin Koch. Als Leiter Stromproduktion betreut er bei der AEW auch das Photovoltaik-Portfolio. Gerade bei abseits gelegenen Landwirtschaftsbetrieben muss er das Kostenverhältnis von PV-Anlage und Netzausbau exakt kalkulieren, weil dabei oft grosse Distanzen überwunden werden müssen und entsprechende Kosten entstehen.

«Es kann durchaus vorkommen, dass Bau und Betrieb einer PV-Anlage im Contracting nicht wirtschaftlich sind, da diese Gesamtkalkulation nicht aufgeht», sagt Robin Koch.

Zuständig für das Verteilnetz der AEW ist Adrian Schwammberger. Er ist Leiter Netzinfrastruktur und Betrieb bei der AEW und setzt klare Prioritäten: «Wir müssen primär dafür sorgen, dass das Stromnetz jederzeit funktioniert.» Als Delegierter der AEW bei der Organisation für Stromversorgung in Ausserordentlichen Lagen (OSTRAL) stellt er dabei auch die Versorgungssicherheit der Schweiz in den Fokus. Unser Land produziere im Sommer einen Überschuss, sagt er: «Strom, der für den Winter gespeichert werden müsste, wenn die Produktion sinkt und der Bezug höher wird.» Dabei werde es zu Leistungsspitzen kommen, welche das Netz bewältigen müsse. Für ihn steht aber nicht unbedingt der Verbrauch im Zentrum der Überlegungen, sondern die Leistungskomponenten – oder, wie Adrian Schwammberger es augenzwinkernd ausdrückt: «Es geht nicht um den Tankinhalt, sondern um die Motorleistung des Autos.»
Markus Sulger

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