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«Mehrwert für das Publikum»

Corona hat auch die Kultur- und Bildungsinstitutionen im Aargau getroffen: Museen, Kinos und Hochschulen mussten ihre Türen schliessen. Viele Häuser haben deshalb auf digitale Kommunikationsformen gesetzt und sind neue Wege gegangen.

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Die Pandemie hat gezeigt, dass sich unsere Lebensumstände urplötzlich verändern können. Die «aussergewöhnliche Lage» stellte die Gesellschaft vor neue Herausforderungen, für die über Nacht Lösungen gefunden werden mussten. Das hatte trotz allem auch positive Seiten: Veränderte Umstände verlangen immer auch nach Innovationen und begünstigen unkonventionelle Ideen. Als das Virus die Welt im März 2020 in den Winterschlaf zwang, bescherte die «Getty-Challenge » den geschlossenen Museen beispielsweise einen regelrechten Social-Media- Hype. Auf Twitter hatte das Getty Museum aus Los Angeles seine Follower aufgerufen, berühmte Kunstwerke mit Hilfe von Alltagsgegenständen nachzustellen. Überall auf der Welt wurde die Idee begeistert aufgenommen, Hunderttausende beteiligten sich. Auch viele Schweizer Museen machten mit. Dennoch bedeutete der Lockdown für Kulturbetriebe vor allem, dass der Kunst das Publikum fehlte. 

Erfahrungsvorsprung

Ähnlich war die Lage an der Hochschule für Technik der FHNW in Windisch: leere Hörsäle, die Studierenden in alle Winde zerstreut. Darauf sei man allerdings vorbereitet gewesen, sagt Martin Meyer, Leiter Ausbildung in Windisch: «Am Donnerstag wurde die Schliessung angeordnet. Am Montagmorgen um Viertel nach Acht haben erste Dozierende online unterrichtet.» Der Unterricht per Videokonferenz war eingehend erprobt worden und bereits lange vor Corona standen einzelne Unterrichtsmodule und sämtliche Unterlagen online zur Verfügung. Auch das Museum Langmatt in Baden hatte bereits Erfahrung mit digitalen  Kommunikationsformen. «2017 haben wir das erste digitale Format getestet, ein Augmented Reality Projekt zu ausgewählten Bildern der Sammlung», sagt Museumsdirektor Markus Stegmann und erklärt: «Vom Gemälde ‹Boulevard Montmartre› von Camille Pissarro gibt es beispielsweise 14 verschiedene Variationen, die man auf dem Tablet mit unserem Bild vergleichen konnte. Das ist ein toller Mehrwert für das Publikum.»

Die Realität lässt sich nicht ersetzen

Technisch sei das alles kein Problem, darin sind sich der Museumsdirektor und der Techniker einig. Es gelte aber, sich genau zu überlegen, wozu man die digitalen Kanäle nutzen wolle. Markus Stegmann gibt ein Beispiel: «Seit letztem Jahr produzieren wir begleitend zu den Ausstellungen jeweils kurze Filme für Instagram, bei dem die Kuratoren Einblicke geben oder besondere Aspekte hervorheben, wo wir aber auch den Auf- oder Abbau der Ausstellung zeigen können. Das gibt dem Museumsbetrieb ein Gesicht und macht ihn weniger abstrakt.» Gleichzeitig betont er, dass die Begegnung mit dem Original auch durch die beste Technik nicht zu ersetzen sei. Martin Meyer sieht das ganz ähnlich: «Natürlich kann ich die Studierenden durch acht Stunden Videostream pauken, aber das ist für alle unbefriedigend. Ein Studium lebt auch von der Begegnung, dem persönlichen Austausch.»

Totgesagte leben länger

Dem würde vermutlich auch Walter Ruggle zustimmen. Er ist Präsident des Vereins Kino Orient in Wettingen. Den Kinos wurde schon oft das Ende vorausgesagt: In den fünfziger Jahren sollte das Fernsehen die grosse Leinwand ersetzen, dann Video und DVD-Player und nun die Streamingplattformen. Auch angesichts des Lockdowns und den sprunghaft ansteigenden Nutzerzahlen bei Netflix & Co. wurde vor einem bevorstehenden Kinosterben gewarnt. Ruggle betont indes, dass man als Programmkino zukunftsorientiert unterwegs sei und fügt hinzu: «Streaming sehe ich weniger als Konkurrenz fürs Kino als fürs lineare Fernsehen.» So konnte das Kino Orient sein Programm auch im Lockdown zeigen – als Videostream. In Zusammenarbeit mit der Schweizer Streamingplattform filmingo.ch konnten im sogenannten Sofakino sogar Premieren stattfinden. Weil das beim Publikum sehr gut angekommen sei, will Ruggle das Streamingangebot weiter ausbauen: «So können wir einen Film im Kino zeigen und gleichzeitig eine Retrospektive desselben Regisseurs im Sofakino anbieten.» Um die Zukunft des Kinos macht er sich keine Sorgen: Es werde weiterhin seinen Platz haben als Unterhaltungstempel und Ort der kulturellen Begegnung. 

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Das Kino Orient in Baden erreichte sein Publikum via Videostream

Das Kino Orient in Baden erreichte sein Publikum via Videostream

Neue Perspektiven

So unterschiedlich die Bedingungen sein mögen, die Erfahrungen gleichen sich. Digitale Formate bieten Möglichkeiten, die es clever zu nutzen gilt – nicht nur im Lockdown. Corona habe dazu beigetragen, die analoge Form der Vermittlung endgültig aufzubrechen, sagt Markus Stegmann: «Mittlerweile ist allen klar, dass die digitale Ebene unverzichtbar ist. Da gibt es kein Zurück mehr.» Professor Meyer, ganz der Praktiker, denkt hingegen bereits an den Unterricht der Zukunft: «Bisher findet der Erstkontakt mit dem Lehrstoff im Präsenzunterricht statt, die Vertiefung ist dann Sache der einzelnen Studierenden. Das müsste eigentlich umgekehrt werden: Die Grundlagenvermittlung funktioniert problemlos online – die Stoffverarbeitung anhand von Anwendungs- oder Fallbeispielen fällt hingegen im Kontaktunterricht meist leichter.»

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Das Publikum zieht mit

Schon jetzt lässt sich feststellen: Die Pandemie hat für Veränderung gesorgt. Nicht nur bei den kontaktierten Kultur- und Bildungsinstitutionen. Auch das Verhalten des Publikums hat sich gewandelt. Das Museum Langmatt jedenfalls freut sich seit der Wiedereröffnung über ein stark gesteigertes Besucheraufkommen. Markus Stegmann ist deshalb optimistisch: «Ich bin zuversichtlich, dass die Langmatt auch in Zukunft ein Publikum haben wird, welches das Museum mit allen Sinnen erleben möchte.» Dazu gehört seit vergangenem Jahr auch das sinnliche Erleben im virtuellen Raum.

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