Lucas Fischer - «Ich wollte immer fliegen»
Erst EM-Silber am Barren, dann Pop und Akrobatik auf der Bühne: Lucas Fischer aus Möriken-Wildegg hat zwei Karrieren gemeistert – und bleibt dabei ganz er selbst. Ein Gespräch über Brücken, Brüche und die Kraft, sich treu zu bleiben.
Lucas, wann hast du zuletzt etwas zum ersten Mal gemacht?
Diesen Sommer, als ich eine Woche allein in Sizilien war. Einfach ich, meine Gedanken, meine Gefühle. Kein Programm, keine Rolle – nur ich. Das war unglaublich wertvoll. Ich möchte das jetzt öfter machen: allein reisen, ganz ohne Erwartungen von aussen. Und ohne jemanden, der sagt, was richtig oder falsch ist.
Erinnerst du dich an den Moment, als du wusstest: Es geht nicht mehr mit Spitzensport?
Ja. Ich hatte eine Warze an der Hand, die einfach nicht wegging. Acht Monate lang habe ich alles versucht, nichts half. Bis mir eine Handchirurgin sagte: «Wenn wir operieren, wird's kompliziert. » Da wusste ich: Es ist vorbei. Es war nicht die Epilepsie, es waren nicht die Operationen an Füssen und Knie: Es war eine Warze, die meine Karriere beendete – das war speziell. Danach bin ich in ein Loch gefallen.
Wie hast du wieder rausgefunden?
Schon 2012, als ich die Olympischen Spiele wegen meiner Epilepsie verpasste, habe ich angefangen meine Stimme auszubilden. Das half mir, meine Gefühle zu kanalisieren und zu verarbeiten. Das Singen brachte mich zurück zum Turnen und ermöglichte mir 2013 EM-Silber am Barren. Auch nach der Karriere holten mich die Musik und die Natur zurück ins Leben. Ich fand darin meine neue Sprache. Musik wurde mein neues Turnen – nur freier.
Was ist dir heute näher: die Sportarena oder die Bühne?
Ganz klar die Bühne. Ich darf etwas geben, statt nur zu funktionieren. Als Kunstturner hatte ich oft Angst, alle zu enttäuschen – meine Familie, den Verband, das ganze Land. Heute bin ich nervös, aber auf eine gute Weise. Ich bin offen, echt, verletzlich. Das berührt die Menschen – und mich. Ich darf zeigen, was ich fühle. Und das fühlt sich richtig an.
2025 hast du beim Deutschen Turnfest vor 44 000 Menschen die Hymne «Light Up» gesungen. Was war das für ein Gefühl?
Unfassbar. Alle haben mitgesungen, mitgetanzt, die Lichter gezeigt. Ich hatte Hühnerhaut. Ich habe den Song geschrieben, das Musikvideo gedreht, war monatelang unterwegs. Es war mein bisher grösstes Highlight – und ein Moment, der alles vereint hat, was mir wichtig ist: Musik, Bewegung, Begegnung.
Gab es einen Moment, der dir so richtig einen Energieschub gegeben hat?
Ja. Monate nach dem Karriereende war ich noch einmal in meiner Trainingshalle. Da habe ich geweint, gelacht, geschrien. Und danach wusste ich: Ich will auf die Bühne. Bei einem Auftritt in Paderborn habe ich dann zum ersten Mal Gesang und Akrobatik kombiniert. Als der Saal tobte, war mir klar: Das ist mein Weg. Später kam die «Supertalent»-Show in Deutschland – dort holte ich als erster Schweizer den «Golden Buzzer». Da wusste ich, dass mein Konzept funktioniert. Pop und Akrobatik
Dein Coming-out kam 2018. Wie hat sich dein Leben seitdem verändert?
Ich bin freier, echter, offener. Ich musste mich vorher lange verstecken, auch vor mir selbst. Als ich es dann wusste und laut gesagt habe: «Ich bin schwul», war das wie ein Knopf, der sich löst. Ich habe viel Positives erlebt, aber auch Ablehnung. Eine Frau hat mich und meinen damaligen Freund im Zug angeschrien: «Ihr seid so grusig!» Das trifft dich. Trotzdem: Ich würde es immer wieder tun. Sichtbarkeit ist wichtig – auch für die, die sich selbst noch nicht trauen.
Was hat dich besonders berührt?
Meine Grossmutter. Als ich ihr nervös davon erzählt habe, sagte sie nur mit einem Augenzwinkern: «Lucas, meinst du, ich bin so eine unmoderne Grossmutter?» Das war so herzig. Diese Selbstverständlichkeit, diese Liebe – das vergesse ich nie.
Du hast viel erlebt. Wie hat sich dadurch dein Blick aufs Leben verändert?
Ich habe gelernt, mich nicht mehr zu verstellen. Als Kunstturner habe ich mich immer angepasst, dabei war ich halt einfach emotional, quirlig, anders. Heute bin ich mehr bei mir. Es ist okay, nicht immer stark zu sein. Und es ist ein Geschenk, sich selbst zu kennen. Das ist ein Weg, der nie aufhört – aber jeder Schritt lohnt sich.
Welche Ziele hast du noch?
Ich will mit meiner Show europaweit auftreten, vielleicht weltweit. Ich will Songs schreiben, reisen, Menschen und Kulturen begegnen. Ich will Geschichten erleben, die ich in Musik verwandeln kann. Aber ich möchte nichts mehr erzwingen. Ich nehme, was kommt, mit offenen Armen. Und ich wünsche mir, dass ich weiterhin Menschen berühren kann.
Und wenn du dein Leben in einem Satz zusammenfassen müsstest?
Bleib auf deinem Weg und lass dich von niemandem verändern.
Pop und Akrobatik
Lucas Fischer (35) aus Möriken-Wildegg gewann 2013 als Kunstturner EM-Silber am Barren, ehe gesundheitliche Rückschläge ihn zum Rücktritt zwangen. Er fand eine zweite Bühne in der Musik – mit Pop-Songs, die oft autobiografisch sind, und Shows, in denen er Gesang und Akrobatik verbindet. 2018 outete er sich als schwul und setzt sich seither für Vielfalt ein. 2025 schrieb und sang er die Hymne des Deutschen Turnfests in Leipzig. Seine Songs erzählen von Höhen und Tiefen – und davon, immer wieder aufzustehen.